Zarathustra ist tot - Paradigmenwechsel der Deutung unseres Erkenntnisvermögens und seine Konsequenzen

Administrator (admin) on 02.06.2009

Heinrich Erdmann

Was ist Erkenntnis? Was ist Wissen? Was ist Wahrheit?

Nach einer kurzen Einführung in philosophische Fragen und Probleme des Erkennens, werden in einer Übersicht die wichtigsten, vor allem biologischen und sprachwissenschaftlichen Beobachtungen der Erkenntnisgewinnung dargestellt. Sie werden heute allgemein auch als Konstruktivismus bezeichnet.

Ergänzt wurden sie von Claudia Knütel mit einem Beitrag über konstruktivistische Aspekte in der Mathematik. Der sog. Konstruktivismus zwingt zu einer neuen Deutung unseres Erkenntnisvermögens und zur Einsicht in die unentrinnbare Selbstbezüglichkeit unseres Erkennens. Unsere bisherigen Vorstellungen von Erkenntnis, Wissen, Wahrheit und Objektivität sind damit so nicht mehr haltbar.
Schon für Immanuel Kant stand fest, dass Erkenntnis nur in uns selbst entsteht, dass sie ausschließlich durch unsere eigenen Strukturen bestimmt ist und dass sie nichts mit dem „wahren Sein“ der Dinge zu tun haben kann. Kant begreift seine Erkenntnistheorie deshalb auch als kopernikanische Wende. Nachvollzogen wurde diese Wende aber bis heute nicht. Im Gegenteil, die Hybris unseres Erkenntnisanspruchs erreichte im 19. und im 20. Jahrhundert sogar einen Höhepunkt. Und diese Hybris prägt, bewusst oder unbewusst, die Geistesgeschichte des Abendlandes bis heute. Der damit verbundene Wahrheitsanspruch hat aber fundamentalistische Züge und ist zumindest mitverantwortlich für schwere Fehlentwicklungen, die zu verheerenden Katastrophen geführt haben. Anspruch auf Wahrheit und Objektivität durchzieht unser gesamtes Wissen wie ein roter Faden. Er findet sich nicht nur in der Religion, sondern ebenso auch in der Wissenschaft und in der Philosophie. Aus der Sackgasse dieses Denkens kann uns nur ein konsequenter Paradigmawechsel der Deutung unseres Erkenntnisvermögens führen. Ein überzeugender und zwingender Teilaspekt für die Notwendigkeit dieses Wechsels bietet der sog. Konstruktivismus. Er bestätigt auch die Sichtweise Immanuel Kants. Die von einigen Philosophen geäußerte Kritik am Konstruktivismus wird dabei nicht unterschlagen, sondern sorgfältig analysiert und überzeugend widerlegt.
Hauptanliegen des Autors ist aber die Untersuchung und die Beschreibung der sehr weitreichenden Konsequenzen konstruktivistischen Denkens. Gültigkeit, Wertigkeit und Bedeutung unseres Erkennens sind nicht abhängig von dessen, wie auch immer verstandenem Wahrheitsgehalt, sondern einzig und allein davon, ob diese Erkenntnisse viabel sind, das heißt, ob sie sich am Leben bewähren. Die von manchen geäußerte Sorge, dass Erkenntnis und Wissen dadurch unzulässig relativiert werden, lässt sich entkräften und ist unbegründet. Vor allem die Tragweite der konstruktivistischen Sicht und viele sich daraus ergebende wichtige Änderungen bei der Deutung unseres Erkenntnisvermögens, wurden bisher ganz offensichtlich noch gar nicht verstanden. Überzeugend erklären lässt sich konstruktivistisch u.a. das Problem der Antinomie menschlicher Freiheit, also die Frage ob es Freiheit gibt, und warum wir darauf widersprüchliche Antworten erhalten. Da es für uns keine Wahrheit gibt, wird Erkenntnis nämlich mitbestimmt von unserer Fragestellung und Erkenntnis hat deshalb auch viele „Sprachen" oder viele Perspektiven. Die Frage nach der Freiheit kann deshalb mit verschiedenen „Sprachen“ bzw. aus verschiedenen Perspektiven beantworten werden, und so können wir auch Antworten erhalten, die sich widersprechen, obwohl jede dieser Antworten „richtig“ sein kann. Eine konstruktivistische Deutung unseres Erkenntnisvermögens hat damit große, und auch sehr fruchtbare Konsequenzen für alle Gebiete des menschlichen Geistes. Sie weitet unseren Horizont, sie verändert unser Weltbild, und sie ändert unser Verständnis von Philosophie, von Wissenschaft und auch von Religion. Sie bestätigt nicht nur den kategorischen Imperativ Immanuel Kants, sondern erweitert dessen Begründung, und weist darüberhinaus auch praktische Wege bei der Lösung ethischer Fragen, sowie bei der Deutung religiöser Fragen und des religiösen Glaubens. Und sie zeigt, die, aus erkenntnistheoretischer Sicht, prinzipielle Gleichberechtigung wissenschaftlicher und religiöser Erkenntnisse. An einem Paradigmawechsel der Deutung unseres Erkenntnisvermögens führt heute kein Weg mehr vorbei.

 

Vgl. dazu die Rezension von Prof. em. Dr. Siegfried J. Schmidt:
 

Heinrich Erdmann. „Zarathustra ist tot“. Paradigmenwechsel der Deutung unseres Erkenntnisvermögens und seine Konsequenzen.

Zarathustra: das ist für Heinrich Erdmann der Name für fundamentalistisches Denken in allen Wissens-, Forschungs- und Lebensbereichen. Und Zarathustras Totengräber ist der Konstruktivismus. Seine Einschätzung ist eindeutig: „Niemand, der sich mit Fragen der Erkenntnis auseinandersetzt, wird […] künftig an der konstruktivistischen Sicht und Deutung unseres Erkenntnisvermögens mehr vorbeikönnen.“ (S. 11)

Nun ist es heute riskant, über „den Konstruktivismus“ zu sprechen. Zum einen gibt es kein geschlossenes Lehrgebäude namens „Konstruktivismus“, sondern bestenfalls einen durchaus heterogenen Diskurs dieses Namens. Zum anderen gibt es durchaus unterschiedliche Begründungsstrategien für konstruktivistische Argumentationen, die von der Biologie bis zur Philosophie reichen. Beides macht eine plausible Rekonstruktion konstruktivistischer Argumente schwierig, und der Autor ist sich dessen wohl bewusst.
In dieser Situation trifft Erdmann eine wichtige und nachvollziehbare Entscheidung: Er konzentriert sich auf Autoren wie Maturana, Varela und von Glasersfeld (ohne andere auszuschließen), und er konzentriert sich auf biologische Plausibilisierungen (nicht etwa Beweise) für bestimmte Argumentationsstrategien. Dabei stehen folgende Argumente im Zentrum: Eine Fülle von biologischen Beobachtungen legt die Konsequenz nahe, dass alle unsere Erkenntnisse bezogen sind auf und begrenzt durch die Beschaffenheit unseres Erkenntnisapparats. Mit anderen Worten: Sie sagen nichts aus über „die Wahrheit“ oder das „ontische Sein“, sondern nur etwas über uns; und unser Erkenntnisapparat ist ein Instrument zur Sicherung unseres Überlebens und nicht zur Generierung von objektiven also von uns unabhängigen Erkenntnissen über „die Realität“.

Dieser Duktus der Argumentation führt Erdmann direkt zur von Glasersfeld’schen Kategorie der Viabilität, wobei Viabilität bedeutet, „…dass sich unsere Erkenntnisse am einzig sicheren und unabdingbaren Kriterium unserer Existenz messen müssen, nämlich am Leben selbst.“ (S. 205) Dieser Grundgedanke zieht sich durch das gesamte Buch Erdmanns. Er wird erprobt im Hinblick auf die biologischen Grundlagen der Erkenntnis, im Blick auf Wissenschaft und Philosophie, auf Religion und Ethik. Und immer lautet der Tenor der Argumentation, dass man nach dem Ende der Forderung nach Objektivität, Wahrheit und universalen Theorien und Erklärungen sinnvoller Weise nur danach fragen kann und sollte, was eine Theorie, eine Erklärung, eine Fragestellung und Antwort sowohl für das Leben des Einzelnen als auch für das Leben der Gesellschaft an vernünftigen, kommunizierbaren und vor allem auch revidierbaren Problemlösungen zu bieten hat.

Für Erdmann bietet dieser Kerngedanke konstruktivistischen Argumentierens - und zwar nur in Verbindung mit dem Begriff der Viabilität - das Modell für eine kopernikanische Wende in Wissenschaft, Philosophie und Religion, wobei sich diese Wende nicht nur durchaus vereinbaren lässt mit der Denkweise, die schon I. Kant – allerdings reichlich folgenlos – mit eben diesem Begriff bezeichnet hatte, sondern Erdmann setzt gedanklich konsequent weiter fort, was Kant in Bezug auf unser ethisches Handeln gewissermaßen nur modellhaft angedeutet hat. Für ihn ist klar, dass damit ein Paradigmawechsel der Deutung unseres Erkenntnisvermögens eingeleitet ist, an dem heute kein Weg mehr vorbeiführt, und der bedeutet: Wir müssen uns abfinden mit der unentrinnbaren Selbstbezüglichkeit unseres Erkennens.

Diese Einsicht stimmt überein mit konstruktivistischen Varianten, die nicht mit biologischen Argumenten operieren, sondern konsequent die Beobachtergebundenheit aller menschlichen Handlungen i. w. S. ernst nehmen.
Die Einsicht in die Selbstbezüglichkeit unseres Erkennens hat Konsequenzen, die unser bisheriges Weltbild verändern. Sie zeigen wichtige neue Perspektiven auf und sie lösen manche Widersprüche, mit denen sich unser Denken bisher vergeblich abgemüht hat, oder sie lassen diese Widersprüche zumindest in einem neuem Licht erscheinen. Die unentrinnbare Selbstbezüglichkeit des Erkennens hat damit nicht nur Bedeutung für das Verständnis unseres ethischen Handelns, sonder sie hat auch - und das ist für manche vielleicht überraschend und irritierend - unausweichliche Konsequenzen für die Deutung und Bewertung jeglicher Wissenschaft. Sie berührt und verändert damit die Stellung und Deutung jeder Wissenschaft, einschließlich der Naturwissenschaften in unserem Weltbild ebenso, wie sie andererseits auch die Deutung und Bedeutung von Religionen und von religiösem Glauben verändert.
Diese Zusammenhänge und ihre Konsequenzen wurden zum ersten Mal so klar erkannt und so eindrucksvoll und überzeugend beschrieben. Aufgabe wird es jetzt sein, die Konsequenzen dieses Paradigmas der Selbstbezüglichkeit für jedes einzelne Gebiet des menschlichen Erkennens auf ihre Plausibilität und Tauglichkeit zu befragen und damit die Fruchtbarkeit und Nützlichkeit des neuen Paradigmas auszuloten.
Erkenntnis hat „viele Sprachen“ in verschiedenen Kontexten und zu verschiedenen historischen Zeiten. Zwischen diesen Sprachen kann nicht nach Kriterien objektiver Wahrheit oder Falschheit entschieden werden, sondern durch kritische und aufrichtige Kommunikation, die nach viablen Lösungen sucht. Dabei ist Bescheidenheit angesagt – wie bekannt eine schwierige Tugend. Das zeigt sich sehr deutlich in den Überlegungen zu Religion und Moral, in denen nicht etwa eine endgültige, unumstößliche und für alle Zeiten gültige Lösung gesucht wird, sondern deutlich gemacht wird, dass nur ein verantwortungsvolles Abwägen verschiedener Argumentationen im Hinblick auf eine viable Problemlösung angesichts unserer menschlichen Erkenntnismöglichkeiten akzeptabel ist.
Die Tugend der Bescheidenheit ist dem Autor dieses Buches uneingeschränkt zu bescheinigen. Seine Darstellung konstruktivistischer Essentials ebenso wie seine Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden ist zurückhaltend, präzise und kritisch, aber auch durchaus engagiert aus Sorge um die Zukunft der künftigen Gesellschaften. Damit realisiert der Autor, was er unter seinem Leitbegriff ‚Viabilität‘ theoretisch postuliert: das Ziel, vernünftige Problemlösungen für relevante Fragen zu erarbeiten, ohne fundamentalistische Ansprüche durchsetzen bzw. beanspruchen zu wollen.
Für Erdmann ist Zarathustra tatsächlich gestorben, und zwar aus guten Gründen.
Sein Buch liefert ein eingehendes Plädoyer für die Bedeutsamkeit und die Aktualität konstruktivistischen Denkens. Es lohnt sich daher für Philosophen wie für Wissenschaftler aller Disziplinen, aber auch für jeden, der sich für Fragen unseres Erkenntnisvermögens interessiert, dieses Buch zu lesen und in der Praxis ernst zu nehmen.

Univ. Prof. Dr. Dr. h.c. Siegfried J. Schmidt

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