Wir Menschen, das Böse und die Sünde

Einem Berliner Pfarrer wurde, nachdem er die Schöpfungsgeschichte behandelt hatte, in der nächsten Konfirmandenstunde von einem Buben mitgeteilt, wie sein Vater auf den „biblischen Quatsch“ reagiert hatte: „Sag dem Pfarrer: Wir stammen vom Affen ab.“ Darauf soll dieser geantwortet haben: „In Eure Familienangelegenheiten mische ich mich nicht ein!“ Pfiffig gekontert? Wir können über die Antwort nur dann richtig lachen, wenn wir die apologetische Absicht des Witzes teilen: uns die lästige evolutive Herkunft vom Hals zu halten, um ungestört bei der biblischen bleiben zu können, in der wir von Gott direkt und unmittelbar - also entwicklungslos und fertig und mit „sehr gut“ bewertet - als Krone der Schöpfung geschaffen worden sind.
Damit kommen wir dem Problem näher, das sich zeigt, wenn wir Bibel und Evolution verbinden wollen. Denn die Bibel redet nicht von der Schöpfung des Kosmos bzw. vom Urknall (vor ca. 13,7 Milliarden Jahren), sondern von dem, was der Mensch als seine Umgebung gesehen und als ein geteiltes Ganzes wahrgenommen hat: „Himmel und Erde“. Konkret heißt das im Hebräischen aber: unter sich Wasser (majim) und mitten darin Erde (adama), aus der der Mensch (adam) vom Schöpfer geformt und dann beatmet worden ist; und über sich „Wasser da [oben]“ (schamajim), was wir mit „Himmel“ übersetzen und nur verstehen können, wenn sich bei Unwettern bildlich „die himmlischen Schleusen öffnen“.
Schöpfung ein kontinuierliches Geschehen
Bei der Erschaffung von „Himmel und Erde“ sind wir aber bereits ca. 9 Milliarden Jahre nach dem errechneten Anfang auf der Zeitachse der Schöpfung angelangt. Leben im Sinne von lebenden Zellen hat sich - im Wasser der Erde? - nach Ansicht der Biophysik erst vor ca. 3,5 Milliarden Jahren entwickelt, menschliches Leben gar erst vor 200.000 bis 100.000 Jahren. Nach Europa sind Menschen, die uns ähnlich sind, wohl vor ca. 50.000 Jahren gekommen. Schöpfung ist also ein kontinuierliches Geschehen mit - was unsere Vorstellungskraft angeht - unendlich langer Geschichte vor uns und wahrscheinlich auch noch nach uns.
Schöpfung kann jedenfalls nicht auf ein Anfangsereignis begrenzt werden, sondern ist als creatio continua zu denken. Die Abfolge der biblischen Schöpfungsbereiche lässt sich mit der Abfolge der Gestaltwerdungen von Leben einigermaßen zusammendenken - wenn auch nicht als voneinander unabhängige Schöpfungsakte, sondern als Akte einer andauernden Entwicklung, in der auch wir uns noch befinden und an der wir mit allem, was wir tun, so oder so mitwirken. Auch weil
die einzelnen Lebensgestalten immer endlich (gewesen) sind, weil sie werden und vergehen, hat es unendliche, „ewige“, Lebensgestalten im Kosmos nie gegeben.
Das wirkliche Problem besteht darin, dass in den biblischen Schöpfungserzählungen fertige Menschen durch Gottes Schöpferwort entstehen. Das ist in der Theologie begründet, die den fertigen Menschen als unmittelbar wortgezeugt und Gott ebenbildlich verstand. Eine vorhergegangene Entwicklung aus anderen Geschöpfen ist deshalb gar nicht denkbar gewesen.
Das ist für uns Menschen bedeutsam, wenn wir es mit einem anderen Problem in Verbindung bringen. In der Erzählung davon, wie Gottes »gute« bzw. »sehr gute« Schöpfung entstanden ist, taucht keinerlei gegengöttliche Macht auf. Gleichwohl ist dann schon in Gen 3 eine solche Macht wirksam und verführt die Menschen zum Ungehorsam. In Gen 4 wird diese Macht dem Kain von Gott selbst - und so auch den Lesern - als „die Sünde“ vorgestellt. Diese lauert uns Menschen wie eine Person auf, um uns in ihre Gewalt zu bringen.
Woher kommt die Sünde?
Gott ordnet an, dass es umgekehrt der Menschen Aufgabe sei, „die Sünde“ zu beherrschen. Der Weg dahin führt über das Tun des „Guten“ (4,7) und ist nur zu finden, wenn man „Gut“ und „Böse“ unterscheiden kann (Gen 3,22). Da man das nicht in jeder Situation (neu) kann, nehmen den Menschen erst die zehn (Basis-) Gebote und später die Tora oder andere Ausformulierungen des „kulturellen Gedächtnisses“ diese Aufgabe weitgehend ab. Sie bieten das Geländer an, an dem man sich „recht“ durch das Leben bewegt.
Das ist in sich logisch - bis auf den Umstand, dass auch hierbei die Herkunft der Sünde bzw. des Bösen ungeklärt bleibt, obwohl sich fortan Gott und antigöttliche Sünde bzw. Satan, später Christ und Antichrist, als dualistische Mächte mit gegenläufigem Willen gegenüberstehen und bekämpfen. Woher aber kommt „die Sünde“, wenn sie nicht geschaffen wurde? Eine evolutiv-theologische Anthropologie kann darauf antworten - und braucht keinen Dualismus. Aber sie verlangt, dass wir unsere tierliche Herkunft endlich ernstnehmen. Sehen wir uns die Antwort an.
Adam und Eva lebten „im Paradies“ mit den Tieren. Wie diese mussten und konnten sie Gut und Böse nicht unterscheiden. Tiere leben deshalb noch heute im Paradies, wie der Zootheologe Rainer Hagencord in Anlehnung an Nikolaus von Kues formuliert hat. Obwohl uns ihre Welt in vielem chaotisch erscheint, leben Tiere in der Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung und der aus ihr stammenden, weitgehend außengeleiteten Ordnung.
Hiob sagt, Gott sorge für sie - modern gesprochen - auch durch die „Nahrungskette“ (S. 38, 39f.), zu der das Töten gehört. Während der Mensch durch den „Sündenfal“ aus dem Paradies vertrieben wird, bleiben die Tiere auch im Hier und Jetzt „dort“, sofern sie nicht domestiziert oder genmanipulativ “humanisiert“ werden.
Gut und Böse unterscheiden
Die „Vertreibung aus dem Paradies“ ist der evolutive Geburtsvorgang des Menschen, der ein selbstreflexives Bewusstsein entwickelt und dadurch in einem entscheidenden Punkt aus seiner tierlichen Herkunft herausfällt - und hinein in die Existenz des homo sapiens sapiens, also dessen, der weiß, dass er etwas, und vieles nicht, weiß. Deshalb muss er fortan Gut und Böse unterscheiden. Obwohl er es lernt und ihm dabei Ge- und Verbote helfen, leidet er an der Einsicht, dass das, was für ihn als Einzelnen oder seine Gruppe gut ist, für andere böse sein kann.
So wird der homo sapiens sapiens zum - wie ich diese Kennzeichnung fortschreibe - homo sapiens patiens:
zum Mensch gewordenen Tier, das weiß, dass er leiden muss und andere leiden macht. Und den anderen geht es wie ihm selbst. Hinzu kommt das Leiden an der Gewissheit, sterben zu müssen - was er gerade an dem Schönsten, der Leiblichkeit, in der sterblichen Natur und an sich selbst ablesen kann.
Die Auskunft der Schlange, dass sie mitnichten sterben werden, wenn sie von dem verbotenen Baum essen, ist eine tierlieche Antwort, die im Paradies wahr ist. Für Tiere gilt dieses Verbot nicht, sondern es gelten nur die artspezifischen Grenzen: Die einen essen davon, andere nicht. Und daher weiß die Schlange, dass man vom Essen der Äpfel nicht leiblich stirbt. Die Schlange weiß aber auch und sagt, dass sich der Menschen Bewusstsein ändern wird, wenn sie von den verbotenen Früchten gegessen, also diese Grenze überschritten haben werden. Und damit wird ihr Paradiesleben enden, ihre tierliche Existenz in einem entscheidenden Punkt zu Ende gehen. Sie werden ein neues, menschliches, Leben beginnen, das auf die Dauerreflexion (Helmut Schelsky) angewiesen ist, weil “die Instinkte“ nur noch rudimentär vorhanden sind und keine ausreichende Orientierung mehr geben.
Das Herkunftsgedächtnis
Woher hat aber die Schlange ihr Wissen? Ist Satan in ihm verkleidet? Warum können die Menschen das Tier verstehen? Antwort: Das Tier ist die evolutive Herkunft des Menschen. Es spricht aus dem tierlichen »Gedächtnis«, in dem Jahrmillionen evolutive Erfahrung gespeichert sind. Nichts davon stammt aus einem anderen Kosmos, einem transzendenten Irgendwo. Dieses tierliche Gedächtnis teilen die Mensch gewordenen Tiere mit den Tier gebliebenen Tieren. Es ist also unser „Herkunftsgedächtnis“, wie ich es nenne. Darum verstehen sie sich in vielem, heute noch. Und an diesem Punkt beginnt sich auch der Theodizee-Knoten zu lösen.
Dazu ist es hilfreich, unser Verhalten im automobilen Straßenverkehr im Rahmen einer evolutiven Anthropologie zu reflektieren. Peter Sloterdijk hat einmal sehr treffend gesagt, dass wir dort unsere „neuzentaurische Existenz“ ausleben. Denn die antiken Zentauern haben ja, um schneller zu sein als wir Menschen sind, den männlich-menschlichen zweibeinigen Körper mit einem kraftvolleren tierlichen Leib und Hinterteil zu einem vierbeinigen Mischwesen verbunden. Diese Mischwesen aus wahrem Tier und wahrem Menschen vermochten den Traum zu erfüllen, uneinholbar schneller und stärker als Zweibeiner sein zu können. Schon der vor 40.000 Jahren auf der Schwäbischen Alb kunstvoll gefertigte „Löwenmensch“ ist diesem Denkmuster im Grunde gefolgt. Die Sphingen in Ägypten ebenfalls, wenn auch wieder modifiziert, als die unüberwindbaren Grabwächter der gottgleichen Pharaonen.
Zurück zur „neuzentaurischen Existenz“: Man muss sich nur das Verhalten vor Ampeln ansehen, um zu begreifen, worum es geht: Da wird um den Platz ganz vorne gekämpft, werden Blechschäden und mehr riskiert - einzig aus dem Grund, bei Grün als Erster starten zu wollen. Das erklärt sich nicht vernünftig, sondern aus dem, was in unserem Herkunftsgedächtnis gespeichert ist: aus dem tierlich-jagdlichen Versprechen, dass der Sekundenvorteil dazu hilft, als Erster bei dem - nun imaginären - Beutetier zu sein. Und außerdem erzeugt das Verbot, bestimmte Grenzen zu überschreiten, wie bei Adam und Eva die unwiderstehliche Lust daran, gerade dies zu tun.
Vormenschliche Verhaltensmuster
Mit anderen Worten: In bestimmten Situationen richten wir uns nicht nach dem, was das „kulturelle Gedächtnis«“ menschlicher Rechtskonventionen gebietet. Sondern wir überlassen uns der darunter, im tierlichen Herkunftsgedächtnis, eingravierten Schicht vormenschlicher Verhaltensmuster. Diesen Schritt tun wir, wenn uns das kulturelle Gedächtnis der Gesetze nicht schnell genug oder gar nicht zum Ziel kommen lässt. Fragt man, warum wir diesen Rückschritt tun, obwohl wir uns doch selbst und kritisch reflektieren können, so lautet die Antwort: Weil die im Herkunftsgedächtnis gespeicherten Verhaltensmuster nicht mit „gut“ oder „böse“ etikettiert, sondern quasi-paradiesisch nur mit der Aussicht verbunden sind, uns (schnell) zum Ziel zu bringen. Doch wenn wir die Grenze überschritten haben, wissen wir alle sehr genau, was nicht Recht gewesen ist, sondern Unrecht.
Am Anfang war - die Migration
Um kein Missverständnis zu erzeugen: Tiere sind nicht böse, tierliches Verhalten ist es auch nicht. Aber was „im Paradies“ tierlicher Existenz wertneutral lebensdienlich war und ist, kann, wenn wir es in die menschliche Zivilisation übertragen, lebensfeindlich, also "böse" werden. Und dies liegt daran, dass zum ungezähmten Tiersein das Wildsein gehörte. Dieses wilde Verhalten diente der Überlebensvorsorge, die darauf zielte, mit allen Mitteln - auch dem Töten - die passende Nahrung zu finden. Deswegen mussten die zum Menschen gewordenen Primaten aus dem Paradies auswandern. Der Sündenfall ist, mit Ernst Bloch zu reden, "der Fall ins Jetzt" unserer menschlichen Existenz. Wären wir Menschen geworden und im Paradies geblieben, hätten wir "wilde Menschen" werden müssen. Aber das Wildsein verstößt gegen menschliches Selbstverständnis und Recht. Und es verstößt gegen das Gebot, die Nächsten zu lieben wie uns selbst, und damit gegen die Menschenwürde. Insofern alle Gesetze, auch die religiösen, dazu da sind, dem Leben zu dienen (Markus 2,27), und insofern Jesus diesen Dienst als Gottes Dienst vorgelebt hat, behindern sie auch Gottes Liebe zum Leben. Diese Liebe gilt allerdings auch der Würde der Tiere und Pflanzen - was wir erst langsam begreifen.
Von der Evolution her gesehen, meint Nächstenliebe nichts anderes als das Prinzip der Kooperation. Nach neuen Erkenntnissen ist Kooperation das stärkste Prinzip der Evolution, stärker als das Recht des Starken.
Denn nur die Kooperation vermag durch Bündelung auch die schwachen Kräfte zu entfalten. Insofern kann die Evolution auch als Lehrbuch verstanden werden, aus dem wir lernen, was die Menschwerdung des immer noch nicht fertigen Menschen weiterbringt.
Eine offene Zukunft
Theodizee meint das Dilemma, dass Gott sich im Weltgeschehen nicht als gerecht erweist, obwohl er doch als der Gute und Liebe schlechthin geglaubt wird. Tatsächlich ist die Theodizee-Problematik ein Produkt des Gedankens, der Mensch sei fertig geschaffen, mithin nicht in der creatio continua befindlich, sondern zur vollkommenen Selbstbeherrschung im Sinne der Verhaltensnormen fähig. Denn die Forderung nach Gottes Gerechtigkeit würde ja nur erfüllt, wenn wir Menschen uns allezeit „gerecht und gut“ (gemäß der Tora) verhalten könnten. Doch das können wir nicht, weil wir die Geschichte unseres Werdens in uns haben. Aus diesem Dilemma führt kein Sühnetod heraus, weil seine Logik selbst aus dem Herkunftsgedächtnis stammt.
So steckt in dem Vorwurf, Gott sei angesichts des Bösen in der Welt nicht gerecht zu nennen, der eigentliche Vorwurf, Gott habe uns Menschen nicht vollkommen gut geschaffen; ja, er hätte uns ohne die tierliche Vorgeschichte schaffen müssen, also so, wie es die Schöpfungstheologie dachte. Doch Gott gehorcht nicht der Theologie. Er hat gemacht, dass wir anders geworden, aus dem Pflanzlichen und Tierlichen herauswachsen und dennoch in ihm verwurzelt geblieben sind. Daran leiden wir und werden wir leiden, so, wie die Tiere unter uns leiden. Und zugleich können wir uns mit allem vor uns verwandt fühlen. Darum ist es Evangelium, glauben zu können, dass die Schöpfung noch nicht fertig ist, sondern eine offene Zukunft hat - und auch „Gottes Sein im Werden“ ist (Eberhard Jüngel).
Vgl. dazu meine Bücher „Update für den Glauben“ (2012) und „Lässt Gott leiden?“ Band 1 der Schriften zur Glaubensreform (2013).
2 Gott und die Tiere. Ein Perspektivenwechsel, Kevelaer 2008, S. 14-16.
3 Im hebräischen ist nachasch, „Schlange“, männlich!
4 „Update für den Glauben“, Abb. 12 und 13 nach S. 128, und S. 171ff. Sehr viel später stellten sich die Pharaonen in Ägypten dem Volk als „Gottessöhne“ dar, in denen Gott und Mensch verbunden waren - worauf auch die christliche Theologie, in wieder neuer Modifikation, zurückgegriffen hat.
5 Die Formell 1 hat daraus einen „Sport“ gemacht und das Beutetier durch eine Millionenbeute ersetzt.
Der Artikel ist zuerst veröffentlicht worden in: Nachrichten der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, Juni-Heft 2013
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