Von der historischen zur theologischen Bibelkritik!

Von der historischen zur theologischen Bibelkritik!

Notwendige Abschiede und Aufbrüche

Judentum und Christentum haben nicht an einem imaginären Punkt Null der Religionsgeschichte begonnen, sondern sich aus Vorgängerreligionen entwickelt, die sie durch neue Gotteserfahrungen umgeformt haben. Ebenso haben sich aus den unterschiedlichen Gemeinden des frühen Christentums und ihren im Neuen Testament überlieferten Glaubenszeugnissen im Laufe der Jahrhun­derte sehr unterschied­li­che christliche Kirchen oder Konfes­sionen entwickelt und mit diversen Gestal­ten von Religiosität verbunden.

Ähnliche Prozesse können im Laufe der Geschichte auch bei anderen Religionen und in vielen Regionen beschrieben werden. Noch der Islam, der erst im 7. Jahrhun­dert in die Religions­geschichte eingetreten ist, hat am Wandel der biblischen Über­lieferungen Anteil. Und auch er hat sich später aufgespalten in die islamischen "Konfessionen" der Schiiten, Sunniten und Alewiten, die sich zum Teil bis heute heftig bekämpfen. Im Islam haben sich wich­tige bib­lische Stoffe mit neuen Gotteser­fahrungen innerhalb der vielfältigen arabischen Kultur verschmolzen.

Aus allem folgt als generelle Einsicht: Es reicht nicht mehr aus, alte Religionssysteme und Dogmen immer neu zu interpretieren. Wenn Menschen ihren Glauben nicht mehr mit Hilfe von Vorstellungen aus der Entstehungs­zeit ihrer jeweiligen heiligen Schriften aus­drücken können, müssen sie andere verwenden. Mit deren Hilfe können sie dann Antworten auf Fragen geben, in denen sich das gegenüber den heiligen Schriften gewandelte Gottes-, Welt- und Selbstverständnis der Menschen äußert. Religionen, die solche Übergänge verweigern, erstarren in der Rechtgläubigkeit und verlieren den Bezug zum Leben. Sie gehen immer weniger Menschen an. Darum ist es wichtig, auf die großen Bilder zu schauen, die durch die ganze Religionsgeschichte hindurch nichts von ihrer Anziehungskraft verloren haben und die großen Erzählungen prägen. Es sind Geburtsgeschichten und solche, die aussprechen, wie sehr wir uns nach Geborgenheit und zugleich nach Freiheit und Gerechtigkeit sehnen - und nach Schutz für unsere verletzliche, sterbliche Existenz. (18.12.12)

Am Anfang des 21. Jahrhunderts haben die westlichen Industriegesell­schaf­ten die industrielle, tech­ni­sche und atomare Revolution sowie den Besuch anderer Him­mels­körper hinter sich. Wir leben in einer Zeit, für die das Stich­wort der Globalisierung steht. Mit ihr verbinden sich neue mediale, wissenschaftliche, ökonomische, kulturelle und auch religiöse Kommunikations­formen und damit einhergehende wechsel­seitige Beeinflus­sungen der Religionen. Sich gegen diesen in seiner Intensität und Tiefe nie da gewesenen Wandel stemmen und bestreiten zu wollen, dass dieser auch das Gottes-, Welt und Menschenbild verändert, hat keinen Sinn. Ein solches Verhalten erinnert vielmehr an die verbissenen, aber doch vergeblichen Versuche der Kirchen, sich gegen die europäische Aufklärung zu wehren. Nur wer sich den Gründen für solchen Wandel öffnet, kann auch die Schattenseiten, die sich damit verbinden, mit konstruktiver Kritik beantworten.

Nachdem die Entstehung der Bibel literarisch und theologisch weitgehend erforscht ist und niemand mehr glauben muss, sie sei vom Himmel gefallen, liegen nun Aufgaben vor uns, die im Wesentlichen mit der inhaltlichen Seite des Glaubens und seiner Begründung zu tun haben. Diskus­sionen über die organisato­rische Struktur der Kirchen sind kein Ersatz dafür. Und die Aufgabe der Theologie können wir nicht mehr in der Repro­duk­tion bibli­scher oder in Dogmen und Bekennt­nis­schriften fest­geschrie­be­ner Lehren sehen. Denn die Beschäftigung damit, alte Lehrge­bäude gegen den kulturellen und wissenschaftlichen Wandel zu verteidigen (Apologetik) und die dadurch erzeugten Probleme bei der Bibel­aus­­legung in Predigt und Unterricht zu bearbeiten, hat schon viel zu viele Kräfte vergeudet. Es gilt, sich dem im Geist gegenwär­tigen Gott zuzuwenden. Die ängstliche Mei­nung, nur durch eine inhaltlich unveränderte Glau­bens­gestalt könnten die Kirchen Profil und gesellschaftlichen Einfluss retten, hat sich als völlig falsch erwiesen­. Denn tatsächlich verlieren die Kirchen immer mehr an Einfluss, weil sie – entgegen der Bezeich­nung „Volks­kirchen“ – durch die ständige Reproduktion antiker Glau­bens­modelle mehr und mehr eine Sonderwirk­lichkeit im Le­ben verwalten. Denn inhaltlich hat der dogmatisch festge­schriebene Glaube nicht mehr viel zu tun mit dem, was das „Kirchenvolk“ und die Pfarrerschaften mehrheitlich glauben1. (4.1.13)