Über die Wahrnehmungen kommen wir Menschen nicht hinaus

Über die Wahrnehmungen kommen wir Menschen nicht hinaus

Biblische und andere heilige Schriften sind keine Diktate Gottes. Kein biblischer Text ist kodifiziertes »Wort Gottes«. An keiner Stelle. Das zu sagen, heißt aber auch zu fordern, daß Kirche und Theologie in Zukunft damit aufhören müssen, eigene Bibelinterpretationen oder -zitate als Gottesworte zu bezeichnen.

Wer die Bibel in theologischer Literatur oder kirchlichen Äußerungen zitiert, muß deutlich machen, dass er verschriftlichte Erinnerungsgestalten (»die Überlieferung«) auslegt und mit seiner Auslegung etwas Eigenes – nämlich das, was er verstanden hat – neben eine im Dunkeln bleibende Wahrnehmung früherer Menschen und ihre verschriftlichte Tradierung stellt. Außerdem muss er die hermeneutischen Denkvoraussetzungen offenlegen, von denen er ausgeht. »So sagt Gott« ist jedenfalls sowohl auf der Kanzel als auch in theologischen Dokumenten von Kirchen ein mehr als anfechtbarer Satz. Nur wer sich als Prophet verstünde und auf eine ihm persönlich geltende Offenbarung berufen könnte, dürfte so reden. Doch so verstehen sich im Allgemeinen ja weder christliche PfarrerInnen und Priester noch Theologen.

Selbst hochinteressante Selbstaussagen "Gottes" in der Bibel wie 2. Buch Mose 3,14 entstammen für uns Menschen der Feder anderer Menschen, die sagten, etwas derartiges von "Gott" wahrgenommen zu haben. Da der zugrundeliegende kurze hebräische Satz "Ich bin der ich bin" aufgrund der hebräischen Grammatik auch heißen kann "Ich bin, der ich sein werde" oder "Ich werde sein, der ich sein werde", ja, auch "Ich bin, der ich gewesen bin", ist es ratsam, die einfachste Variante "Ich bin der ich bin" zu wählen und sich nicht der Lust an Sprachspielen hinzugeben. Und dann sagt dieser Satz, dass Gottes Identität sich nicht anders als durch sein Sein interpretieren lässt. Kein Name, keine Umschreibung, kein Attribut helfen weiter.

Da, wo biblische Texte – sprachlichen Kommunikationsformen zwischen Menschen entsprechend – wörtliche Rede Gottes, Jesu Christi oder von Engeln enthalten, sind sie sekundäre Wahrnehmungsgestalten. Authentisch können wir solche »Zitate« nur in dem Sinn nennen, als Sie das hörend Wahrgenommene meinen. Noch genauer gesagt: Das einst von menschen Erfahrene unmittelbar geben sie nicht wieder. Wenn ich aber eine biblische Überlieferung lese oder höre – oder auch bildlich dargestellt sehe – und diese Überlieferung mich so anspricht, daß ich dadurch – wie unsere Sprache sagt – »ins Herz getroffen werde«, dann ist in mir »Wort Gottes« entstanden. »Herz«, schließt Geist und Verstand durchaus ein.

Was für die Bibel und das Verhältnis ihrer Überlieferungen zu den ursprünglichen Begegnungen mit Gott bzw. Jesus Christus gilt, gilt auch für Heilige Schriften anderer Religionen: sie sind literarisch fixierte Erinnerungsgestalten von Gotteswahrnehmungen. Für ihre heutige Auslegungspraxis gilt deshalb dieselbe Forderung zur strikten Zurückhaltung, wie ich sie an die Adresse von Kirche und Theologie formuliert habe. Das heißt, positiv gewendet: Wer eine alte Gotteserfahrung zitiert, kann nicht nur eine sich verselbständigende Aussage zitieren, sondern muss den mitnennen, der die Gotteserfahrung gemacht hat.

Zusammengefasst heißt das:

Biblische Überlieferungen müssen, was ihre Herkunft bzw. Entstehung angeht, nach dem Dreischritt Begegnen – Wahrnehmen – Erinnern verstanden werden. Denn

  • Begegnungen mit Gott und ihre Wahrnehmung – wir können, beide Schritte zusammenfassend, auch von Gotteserfahrungen sprechen – liegen vor jeder schriftlichen Überlieferung.
  • Für diese Gotteserfahrungen haben wir Menschen keine besonderen Organe. Wir nehmen sie wahr, indem wir sie mit uns schon Bekanntem zu einer neuen Wahrnehmungsgestalt verbinden, und wir erinnern sie wie alles andere im Leben auch. 
  • Die Gottesbeziehung ist in der Geschichte Jesu Christi ausdrücklich als vom Geist (in seiner Taufe) gewirkte Gottesbeziehung beschrieben worden. Da Gott selbst Geist ist, ersetzt diese neue und unmittelbare Beziehung alle vorherigen, an irgendwelche Mittel oder Medien (wie Gesetz oder Riten) gebundenen Formen von Gottesbeziehung. 
  • Wird eine Wahrnehmung Gottes schriftlich dokumentiert, muß sie aus der lebendigen Erfahrung herausgehen und eine sekundäre literarische Gestalt, die Erinnerungsgestalt, annehmen. Alle heiligen Schriften sind sekundäre Erinnerungs-gestalten Gottes. Sie haben nicht nur den mit der wahrnehmung verbundenen Gestaltwandel durchgemacht, sondern auch die Reflexion mit den Mitteln der jeweils von den einzelnen Menschen gelernten Theologie.
  • Kommt bei der Verschriftlichung einer Überlieferung die Übersetzung in eine andere Sprache hinzu, fällt die Überschreibung der älteren Erinnerungsgestalten aufgrund des kulturellen und grammatikalischen Wechsels um so gravierender aus.
  • Es gibt keine literarisch fixierte, dem Wortbestand nach authentische Gottesrede. Wort Gottes wird , was ins Herz trifft und die Gewissheit schafft, "Gott" (was und wen immer man sich in der jeweiligen Zeit darunter vorgestellt hat) begegnet zu sein. Authentisch können wir immer nur die Wahrnehmungs- oder Erinnerungsgestalt nennen, die in Menschen entstanden ist. Die Begegnungen mit "Gott" bleiben unerreichbar vor jeder Überlieferung.
  • Die liturgische Verwendung von Überlieferungen wie im jüdischen und christlichen Gottesdienst führt notwendig zu einer Sakralisierung und Verselbständigung des Wortbestandes, die verdeckt, daß es in der Liturgie eigentlich und gerade um die aktuell wahrzunehmende Gottesbeziehung geht.
  • Nicht nur kulturelle und religiöse Vorprägungen, sondern auch persönliche und kollektive Erwartungen an Gott gestalten die Gotteswahrnehmung selbst und ihre späteren schriftlich reflektierte Erinnerungsgestalten mit.

Klaus-Peter Jörns, 17. August 2013

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