Das Evangelium des Johannes im Kommentar von Hartwig Thyen

Johannes verstehen
Das „Evangelium nach Johannes“ ist das vierte Evangelium im Neuen Testament, geschrieben etwa im Jahr 100 nach Chr. In den fünfzig Jahren davor entstanden erst die Briefe des Paulus und dann die anderen drei Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas. Läßt man diese drei in einer Zusammenschau = Synopse parallel an sich vorüberziehen, dann ergeben sich viele Gemeinsamkeiten ihrer Inhalte. Sie werden daher die synoptischen Berichte genannt und dem in Stil und Einzelberichten so andersartigen Johannestext gegenübergestellt.
Seit der frühen Christenheit fragen sich die Leser: Wer hat das Johannesevangelium geschrieben? Sind seine Berichte historisch wahr? Kannte der Verfasser die älteren Evangelien? Wer spricht darin die hohen Worte: Ich bin das Licht – das Leben – die Wahrheit? Welche Bedeutung hat dieser ganze Text für den christlichen Glauben?
Die Literatur zu diesen Fragen füllt Bibliotheken. Ich habe mich dem Buch von Hartwig Thyen anvertraut: „Das Johannesevangelium“ 2. Auflage 2015 bei Mohr Siebeck, Tübingen, 795 Seiten. Ich habe es gelesen und habe mir dabei Notizen gemacht. Meine Darstellung beruht ganz auf diesem Werk, ohne daß ich Zitate daraus und Seitenzahlen im einzelnen angeben möchte. Solche Nachweise kann ich aber dem liefern, der daran interessiert wäre.
Beim Studieren dieses Werks bekam ich Einblick in die Weite und Vielfalt der internationalen theologischen Diskussion. Thyens Literaturverzeichnis zu Anfang umfaßt 54 Seiten. Auf einer dieser Seiten zähle ich 32 Schriften.
Hartwig Thyen wurde 1927 geboren, er studierte in Mainz und bei Bultmann in Marburg und war Professor an der Universität Heidelberg. Er ist im Jahr 2015 gestorben.
Es ist wichtig im Sinn zu behalten, daß er im Vorwort sagt, als Kommentator könne er nur Vorschläge dazu machen, wie das Evangelium zu verstehen ist, und hoffen, daß die Leser ihm darin folgen. „Gewiß sind andere Arten der Lektüre möglich und die in diesem Kommentar unternommene ist nur eine“.
Thyen schreibt, in den vierzig Jahren seines Lesens und Bedenkens des Johannes-Evangeliums seien ihm zwei große Erkenntnisse gekommen, auch in Auseinandersetzung mit seinem verehrten Lehrer Bultmann und durchaus im Beschreiten eigener Irrwege: Das Evangelium ist von seinem ersten Prologvers an bis zum letzten Vers seines Epilogs (Joh. 21, 24 f.) ein kohärentes, hochpoetisches literarisches Werk - und sein Verfasser kannte die früheren Evangelien und hat deren Berichte und viele Stellen des Alten Testaments in dichterischer Freiheit neu gestaltet.
Viele Interpreten des Evangeliums glauben, es könne kein kohärenter, also zusammenhängender Text sein, sondern weise verschiedene, nicht gut verbundene Quellen auf, sei Erzeugnis einer Johannesgemeinde, enthalte griechische Gnosis-Philosophie und sei oft von späteren kirchlichen Bearbeitern oder Abschreibern abgeändert worden. Manch einer möchte Verse oder ganze Kapitel herausnehmen, um sie an anderer Stelle einzufügen, „zum besseren Verständnis“. Dagegen wehrt sich Thyen und zeigt auf, daß es einen bestimmten Verfasser für den gesamten Text in der überlieferten Form gegeben hat.
Wer ist der Verfasser und somit der Evangelist? In der Schrift selbst wird behauptet, dies sei der Jünger Johannes gewesen, und viele haben das geglaubt und darum den Text „Evangelium nach Johannes“ genannt. Der Beleg ist Joh. 21, Vers 24. Im Vers 20 davor ist die Rede von dem Jünger „den Jesus liebhatte, der auch beim Abendessen an seiner Brust gelegen hatte“. Vers 24 am Ende des Evangeliums fährt nun fort: „Dies ist der Jünger, der dies alles bezeugt und aufgeschrieben hat, und wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist“. Der Name Johannes wird weder hier noch an anderen Orten des Evangeliums genannt, auch nicht beim Abendmahl. Immer nur heißt es, der Jünger, den Jesus liebhatte. Aber er ist erkennbar!
Im Vers 2 desselben Kapitels 21 steht: „Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas... und die Söhne des Zebedäus“, und aus Markus 1, 19 weiß der Leser: Jesus „sah Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, wie sie im Boot die Netze flickten“. Ein Jünger Jesu also soll das Evangelium verfaßt haben, das wäre höchste Autorisation für seinen Inhalt. Aber beide Brüder Jakobus und Johannes hatten schon den Märtyrertod erlitten, bevor das Johannesevangelium aufgeschrieben wurde. Das ergibt sich aus Markus 10, 35 – 40: Jesus prophezeit beiden Brüdern Jakobus und Johannes den Märtyrertod, und das hätte Markus nicht geschrieben, wenn Johannes noch lebte, als Markus den Text verfaßte.
Die neue Erkenntnis ist: Der Jünger Johannes wurde zum Autor und Erzähler gemacht, seine Beteiligung am Text ist Fiktion. Hinter dieser wunderbaren Schrift steht ein Autor, der nicht genannt und nicht bekannt ist. Es ist jedoch für die weitere Erörterung nützlich, den unbekannten Evangelisten Johannes zu nennen, wenn auch gedanklich nur in Anführungsstrichen.
Daß dieser Autor ein sehr kunstvolles Werk geschaffen hat, läßt sich an der Organisation des Textes, an Symmetrien der Aussagen, am Zählen der Tage und Zeichen, an einer Klimax zum ganz in der Mitte stehenden Wort: „Ich und der Vater sind eins“, an Spannung erzeugenden Verzögerungen einzelner Mitteilungen und an der poetischen Gestaltung von Szenen wie der Begegnung Jesu mit der Frau aus Samarien am Jakobsbrunnen zeigen. In solch einer Szene steckt wichtige Aussage über Jesus, so sein Bekenntnis „Ich bin's“ - aber nicht Historie; es ist Fiktion, angesiedelt an konkretem und historischem Ort, dem Brunnen, den die Samaritaner Jakobsbrunnen nannten. Bilder von Brunnen, rettenden Quellen, lebendem Wasser aus dem Alten Testament sind hier verarbeitet, verdichtet, so die vier Szenen im 1. Buch Mose (Genesis 21, 24, 26 und 29) : Die von Abraham vertriebene Hagar sieht einen Wasserbrunnen und sie tränkt den Knaben. Rebekka kommt mit einem Krug auf ihrer Schulter und geht hinab zum Brunnen und schöpft. Da sagt Isaak zu ihr: Gib mir zu trinken. Isaaks Knechte graben Wasserbrunnen, sie graben im Grunde und finden dort eine Quelle lebendigen Wassers. Jakob sieht einen Brunnen auf dem Felde. Da kommt Rahel mit den Schafen, Jakob tränkt die Schafe und er küßt Rahel.
Die Frau aus Samaria kommt zur Mittagsstunde im hellen Licht, Nikodemus kommt zu Jesus des nachts, wieder ist es ein Gespräch unter vier Augen, die Botschaft von der neuen Geburt aus dem Geist – wieder eine Fiktion, eine dichterische Umschreibung von Wahrheit. Ein Name wie Nikodemus ist erdacht, um Realismus in die Szene zu bringen, es ist das Stilmittel des Verisimile: ein Detail wird angegeben, das aus der Wirklichkeit stammt, wie der Brunnen in Samaria, das soll der Erzählung den Anschein von Wahrheit geben. Die Wahrheit aber liegt in der Botschaft der Texte, Johannes zeigt den jüdischen Mann Jesus als das Fleisch gewordene Wort Gottes, wie es der großartige Prolog ankündigt. Johannes schreibt ein Evangelium, das heißt er erzählt die Geschichte von Weg, Wort und Geschick Jesu, aber er fühlt sich nicht der modernen Forderung historischer Zuverlässigkeit verpflichtet.
Wie wandelt sich zum Beispiel die Geschichte von der Salbung Jesu?
1.) In Markus 14, 3 – 9 kehrte Jesus in Betanien ein ins Haus eines Simon und setzte sich zu Tisch. Da kam eine (ungenannte) Frau, die hatte ein Glas mit kostbarem Duftöl, das goß sie über sein Haupt. Als Jünger das als eine Verschwendung ansahen, sagte Jesus: Laßt sie in Frieden, sie hat ein gutes Werk an mir getan.
2.) In Lukas 7, 36 – 50 wird die Salbung anders und ausführlicher berichtet: Jesus war Gast eines Pharisäers und setzte sich zu Tisch. Da war in der (ungenannten) Stadt eine (ungenannte) Frau, die war eine Sünderin. Sie brachte ein Glas mit Salböl, weinte, benetzte Jesu Füße mit Tränen und trocknete sie mit ihrem Haar, dann salbte sie die Füße mit dem Öl. Jesus sagte dann zum Pharisäer: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt, und zu ihr sagte er: Dein Glaube hat dir geholfen, geh hin in Frieden.
3.) In Lukas 10, 38 – 42 kehrte Jesus ein in ein (ungenanntes) Dorf ins Haus der Schwestern Marta und Maria, und Marta machte sich viel zu schaffen ihm zu dienen, während Maria zu seinen Füßen saß und seinen Worten lauschte.
Was macht Johannes aus diesen drei bekannten Prätexten? In Joh. 12, 1 – 8 wird berichtet, Jesus kam nach Betanien, dort machten sie ihm ein Mahl und Marta diente ihm. Maria nahm ein Pfund Salböl und salbte ihm die Füße und trocknete sie mit ihrem Haar. Judas hielt das für Verschwendung, da sagte Jesus: Laßt sie in Frieden! Es soll gelten für den Tag meines Begräbnisses. Natürlich ist Maria hier keine stadtbekannte Sünderin.
Aus dem 1. Text entnimmt der Erzähler den Ortsnamen Betanien und die Salbung und das Wort: Laßt sie in Frieden, aus dem 2. die Salbung der Füße und das Trocknen mit dem eigenen Haar, aus dem 3. die Schwestern, die dienende Marta und die andächtige Maria, und schafft so ein neues schönes Bild.
Und ein weiteres Stück Poesie gehört in dies Bild bei Johannes, ganz neue Nachrichten: Die bei Lukas nur so kurz auftretenden Schwestern Marta und Maria haben einen Bruder, der heißt Lazarus und wurde gerade von Jesus aus dem Grabe auferweckt. „Lazarus war einer von denen, die mit ihm zu Tisch saßen“. Sie nehmen das Mahl ein, wie um dieses Wunder zu feiern.
Hier kommt etwas hinzu. In solchen bei Johannes geschilderten, fiktionalen Szenen steckt mehr Realität als nur der Hinweis auf einen Ort oder einen Namen. Es gibt darin auch soziale Wirklichkeit aus dem Israel der Zeit Jesu, und es gibt Realität der Gefühle und Empfindungen. Joh. 11 Vers 5 sagt: „Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus, den Bruder (Vers 2) der Maria“. Die Schwestern rufen Jesus herbei mit den Worten: „Herr, siehe, der, den du liebhast, liegt krank“. Und am Grabe des Lazarus wurde Jesus sehr betrübt, es gingen ihm die Augen über. Von Johannes, den Jesus liebhatte, war schon die Rede. Diese vier von ihm geliebten Menschen sitzen mit Jesus zusammen am Tisch im Kapitel 12, also ein rechtes Liebesmahl, überhöht noch dadurch, daß das ganze Haus erfüllt wurde vom Duft des bei der Salbung angewendeten Öls. Also liebte Jesus nicht nur allgemein die Menschheit - sondern auch bestimmte Menschen ganz in seiner Nähe. Das will Johannes sagen als Teil der erzählten Realität.
Und die Antwort der glaubend gewordenen Menschen, das Hauptzeugnis des ganzen Evangeliums, legt er Marta in den Mund (Joh. 11, 27): „Ja, Herr, ich glaube, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist“.
Von diesem Mahl, gehalten sechs Tage vor dem Passafest, reicht eine symbolische Brücke zum letzten Abendmahl, zumal hier schon Judas in negativer Schilderung auftritt. Beidesmal steht im Mittelpunkt eine Fußwaschung als Liebesdienst, hier durch Maria an Jesus, dort durch Jesus an seinen Jüngern. Zu solchem symbolischen Vorausblick gibt es auch den Rückblick, nämlich zur Hochzeit von Kana und dem Weinwunder im Kapitel 2. Ein ähnlich festliches Mahl, wieder sitzt Jesus mit seinen Jüngern mit am Tisch. Aus Wasser macht Jesus den guten Wein – in einer Überfülle. Das Fassungsvermögen der sechs bis obenan gefüllten Wasserkrüge ist in Vers 6 angegeben, daraus errechnet der Fachmann die Unmenge von 600 Litern, die jetzt als köstlicher Wein vorhanden sind. Das kann nur symbolisch gemeint sein: Jesus spendet Wein als Liebesgabe Gottes (so wie es auch in unserer neuen Abendmahlsliturgie heißt).
Das heißt ferner: auch die Hochzeit von Kana ist fiktive Erzählung des Verfassers, entfaltet aus Markus 2, 18 – 20: „Es sprachen einige zu Jesus, warum fasten die Jünger des Johannes und deine Jünger fasten nicht? Da sagte Jesus: Wie können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Es wird aber die Zeit kommen, daß der Bräutigam von ihnen genommen wird“.
Im Alten Testament wird Hochzeit oft als Metapher gebraucht für die endzeitliche Erlösung Israels, auch das wird mitschwingen.
Neben dem Wein ist bei Johannes auch das Brot ein wichtiges Symbol, wie in der Brotrede im 6. Kapitel zu erkennen ist. Auch das ist ein symbolischer Hinweis auf das Abendmahl, obwohl in der Mahlszene selbst im Kapitel 13 von Brot und Wein nicht gesprochen wird. Das Kapitel 6 aber beginnt mit der Speisung der Fünftausend und darin erklingen die vertrauten Worte: „Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie (denen, die sich gelagert hatten)“. Der Überfülle des Weins in Kana entspricht hier das Wunder der großen Menge Brot, das so viele Menschen sättigt. Dann spricht Jesus im 6. Kapitel bei Johannes: „Schafft euch Speise, die nicht vergänglich ist, sondern die bleibt zum ewigen Leben. Die wird euch der Menschensohn geben“. Und beim Abendmahl, wie es die drei älteren Evangelien berichten, geschieht das wirklich: Jesus bricht den Jüngern das Brot (und in unserer Liturgie heißt es darum jetzt: Nehmt und esset Brot des Lebens aus meinen Händen).
Am Ende der Hochzeit zu Kana heißt es – Joh. 2, 11 : „Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat, geschehen in Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn“. Entsprechendes geschieht nach der Speisung der Fünftausend – Joh. 6, 14: „Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll“. Durch die Wunderzeichen des Weines und des Brotes, die noch nicht Abendmahl, Eucharistie darstellen, aber doch schon Heilskraft haben, gelangen die Menschen zum Glauben an Jesus.
Und dieser Glauben hat die höchste Verheißung, die Johannes immer wieder benennt, wie in Joh. 6, 47: „Wer glaubt, der hat das ewige Leben“. Oder in Joh. 3, 16: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“.
Gott „gibt seinen Sohn“, das heißt hier: er gibt ihn in die Welt – das Wort wird Fleisch und wohnt unter uns (Prolog). Der Urtext sagt für geben „édoken“ von „dídomi“, und das heißt: geben, schenken, weihen, zur Frau geben. Der Text nimmt nicht etwa das Wort „paradídomi“, das dann hieße: hingeben, zur Verurteilung und Hinrichtung überantworten.
Im Alten Testament, besonders im Stoff des Auszugs der Israeliten, geht es oft um Zeichen, die zum Glauben führen, und Psalm 105 faßt das zusammen: „Er sandte seinen Knecht Mose und Aaron, den er erwählt hatte. Die taten seine Zeichen unter ihnen und seine Wunder im Lande Hams“. Und: „Gedenket seiner Wunderwerke, die er getan hat, seiner Zeichen und der Urteile seines Mundes“.
Der hier Johannes genannte Evangelist hat noch von anderen Zeichen berichtet, die bei den Augenzeugen den Glauben an Jesus auslösten, hat aber nicht viele aufgelistet, sondern hat, wie er schreibt, eine Auswahl getroffen – Joh. 20, 30 f. : „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen“.
Im Prolog Joh. 1, 14 lesen wir: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit“. Menschen haben Jesu Zeichen erlebt und ihn daran als Gottessohn erkannt, sie haben also seine Herrlichkeit gesehen.
Wenn Johannes vom ewigen Leben spricht, dann folgt er nicht der traditionellen Deutung, nämlich daß dieses Leben erst am Ende der Tage, am Ende der Welt, oder für den Einzelnen: nach seinem Tod eintritt. Sondern das ewige Leben tritt schon in das gegenwärtige Leben ein, es umfaßt das Leben. Johannes sagt nicht, wie die synoptischen Evangelien - Markus 1, 15: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen“. Johannes hat die Formel vom Reich Gottes „ersetzt“ durch die vom ewigen Leben. (Aber auch diese ältere Formel vom Reich Gottes ist nicht nur auf ein fernes Jenseits bezogen. Das Reich Gottes ist im Symbol der Tischgemeinschaft, zu der Jesus immer wieder eingeladen hat, präsent und fühlbar.)
Für das ewige Leben gibt es in Joh. 17, 3 eine Definition: „Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“. Es geht hier also nicht um ein zeitlich ewiges Fortleben, sondern um einen (zeitlosen) Zustand des Erkennens oder Schauens Gottes.
Das ewige Leben also als Frucht des Glaubens an den Sohn, das hat im Johannes-Evangelium einen prägnanten Sinn, wie man in Joh. 3, 16 sieht - Gott liebt die Welt und gibt seinen Sohn, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben : die Liebe Gottes und der antwortende Glaube des Menschen gewähren das ewige Leben. Von einer Umkehr zu Gott und folgenden Sündenvergebung ist nicht mehr die Rede, wieder werden frühere Begriffe „ersetzt“:
Markus 1, 4: „Johannes der Täufer war in der Wüste und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“. Und Matthäus 3, 6 : „Viele gingen zu Johannes hinaus und ließen sich taufen im Jordan und bekannten ihre Sünden“. Dagegen Johannes 1, 31: „Damit Jesus Israel offenbart werde, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser“.
Solch ein Ersetzen ist Neuformulieren durch Johannes, es ist nicht Vernichten älterer Sprache. Altes Testament und die synoptischen Evangelien spielen vielfach herein, Johannes „spielt“ mit den bekannten Worten und Erzählungen, aber er bekräftigt sie auch damit. Sein Evangelium ist, wie gesagt, ein hochpoetisches literarisches Werk!
Es fällt zunächst auf, daß Johannes das Vater-Unser ausläßt. Aber es gibt bei ihm ein Gebet, das Jesus selber betet, und das ist in vielen Teilen eine Paraphrase des Vater- Unser - das ist das sogenannte hohepriesterliche Gebet in Joh. 17: Zu Beginn schaut er zum Himmel und sagt Vater. Dann: ich habe dich verherrlicht auf Erden (wie: dein Wille geschehe auf Erden), dann: ich bitte dich, daß du sie bewahrst vor dem Bösen.
Johannes ist ein Gestalter. Das sieht man auch am Auftreten der Personen. Der fiktive nächtliche Besucher Nikodemus – Kapitel 3 - erscheint wieder bei der Grablegung Jesu und brachte Myrrhe gemischt mit Aloe, etwa hundert Pfund, zum Einbalsamieren. Die Jünger hatten bei Jesu Festnahme das Weite gesucht, aber überraschend steht Johannes unter dem Kreuz. Die Mutter Jesu, die nie mit Namen genannt wird, war bei der Hochzeit von Kana und tritt nur noch einmal auf, hier mit Johannes unter dem Kreuz. Die Unmenge guten Weins in Kana hieß: Jesus spendet Wein als überreiche Liebesgabe Gottes. Die Unmenge des von Nikodemus mitgebrachten kostbaren Salböls heißt: Hier wird ein König begraben. Auch diese Salbungsszene ist Fiktion.
Johannes schiebt bisweilen als Erzähler einen Kommentar ein wie in Joh. 7, 38 f.: „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht“. Den (heiligen) Geist und Tröster versprach Jesus, den Jüngern nach seinem Tod zu senden – Joh. 16, 7. Daraus und aus anderen kommentierenden Sätzen wird klar, daß der Erzähler aus der nachösterlichen Perspektive der Glaubenden redet. Das ganze Evangelium, so sagt Thyen, ist österliches Zeugnis, getragen von der Gewißheit, daß der auferstandene Jesus Christus hier das Wort ergreift.
Am Ostermorgen war Maria Magdalena weinend am leeren Grab, und als sie sich umwandte, sah sie Jesus stehen – Joh. 20, 14. Auf ein Wort hin - Maria! - erkannte sie den Auferstandenen. Dieses Bild im Osterlicht hat der Evangelist auch dann vor Augen, wenn er von Jesus berichtet auf seinem Lebensweg, so wenn der Täufer Johannes auf ihn weist und sagt - Joh. 1,36 : „Siehe, das ist Gottes Lamm,“ oder wenn Jesus von sich sagt – Joh. 10, 11: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe“.
In Jesu wiederholten hohen Worten: Ich bin, die freilich herausfallen aus historischer Biographie (um die man sich ohnehin vergeblich bemüht), spricht das Geheimnis göttlicher Gegenwart und das Zeugnis von Jesu Auferstehung und Verherrlichung. Im göttlichen ICH BIN ist der Vater präsent, den niemand gesehen hat - Joh. 1, 18 im Prolog, der sich aber sichtbar macht: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ – Joh. 14 9. Das führt hin zu der kürzesten Formel: „Ich und der Vater sind eins“ – Joh. 10,30. Der Anklang an den Propheten Jesaja ist hörbar: „Ich, ich bin der Herr, und außer mir ist kein Heiland“ – sagt Jahwe, Jes. 43, 11.
Es gibt nur einen Gott, das teure Erbe des Monotheismus Israels wird aufbewahrt, denn Johannes sieht die unauflösliche Einheit des Sohnes mit dem Vater. Auch die Worte Sohn und Vater sind ja Metaphern, genommen aus dem Bild von Familie, dürfen nicht als seinsmäßig trennend verfestigt werden. Im Prolog heißt es in spannungsreichen Sätzen: Das Wort, das dann unter uns wohnte, war bei Gott, und Gott war das Wort.
Eine besonders poetische Szene sehen wir im letzten Kapitel, Joh. 21, und es ist Poesie aus johanneischem Geist, aus Heiligem Geist: Sieben Jünger versammelten sich am Nordufer des Sees Genezareth und gingen fischen. Am Morgen kehrten sie zurück, da stand der auferstandene Jesus am Ufer. Der Jünger, den Jesus liebhatte, also Johannes sagte: Es ist der Herr! Als sie ans Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer und Fische darauf und Brot, und Jesus sagte: Kommt und haltet das Mahl! Und Jesus nahm das Brot und gab's ihnen, desgleichen auch die Fische.
Noch einmal also, in der Rückblende, das Symbol vom Abendmahl. Ebenso blickte die Speisung der Fünftausend, wie gesagt wurde, aufs Abendmahl symbolisch voraus.
Und die beiden Berichte, diese letzte Erscheinung Jesu im Kapitel 21 und die wunderbare Brotvermehrung im Kapitel 6, sind unter sich verklammert durch den Ort der Handlung – das Ufer des gleichen Sees Genezareth - , und durch die Art der Speisen – Brot und Fische.
Johannes beschließt die Erzählung vom geheimnisvollen Kohlenfeuer am Ufer des Sees - Joh. 21,14 – so: „Das ist das dritte Mal, daß Jesus den Jüngern offenbart wurde, nachdem er von den Toten auferstanden war“. Das bedeutet nicht, er sei da zum letzten Mal den Jüngern erschienen. „Vielmehr ist damit die lange, bis ans Ende der Weltzeit währende Geschichte seines Kommens zu den Seinen eröffnet“ - Thyen am Ende seines Buches.
Im Jahre 384 nach Chr. kam die Pilgerin Ätheria an das Seeufer und schrieb: „Nicht weit von Kapernaum sieht man die Steinstufen, auf welchen der Herr stand.“
Auf meiner Reise sah ich diese Stufen, daran lehnte eine Steinplatte mit der Inschrift: THIS IS HOLY GROUND
Christian Greiff, 3. März 2016
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